Wie ich etwas von mir verlor

Alopecia areata

Wenn deine Mutter mit dir an deinem 15. Geburtstag in ein Perückenstudio fährt, und du dort eine Art Wischmopp für alte Damen aufgesetzt bekommst, dann weißt du, dass in deinem Leben etwas katastrophal schiefläuft.

Im Jahr zuvor begann alles mit einer kleinen Zehn-Schilling (ja, so lange ist das her) großen kahlen Stelle am Hinterkopf. Ich maß dem Ganzen keine wesentliche Bedeutung zu. Erst als auch hinter den Ohren, im Nacken und auf der Stirn sich büschelweise meine Haare verabschiedeten und die kahlen Flecken munter aufeinander zuwanderten, willigte ich ein zum Arzt zu gehen. Der Herr Doktor sah sich meine Kopfhaut durch eine Lupe an, ähnlich wie ein Forscher ein interessantes Insekt betrachtet. Er murmelte etwas Unverständliches und verabreichte mir fiese kleine Injektionen in meine Kopfhaut. Cortison, aber das wusste ich damals nicht.

Seit über zwei Jahren war ich in den schönsten Jungen der ganzen Schule verknallt. Die Pubertät hatte mich mit all ihren Unsicherheiten voll in ihrer Mangel und ich fühlte mich dem gottgleichen Wesen haushoch unterlegen. Obwohl ich es nicht einmal wagte, ihn richtig anzusehen, erfuhr er irgendwie von meiner Existenz und meiner brennenden Liebe zu ihm. Mit Löchern in der Frisur, die sich nun immer schwerer kaschieren ließen, sah ich all meine Tagträume, einmal mit diesem anbetungswürdigen Schönling Händchen zu halten, zerplatzen. Ich verlor nicht nur büschelweise Haare, ich verlor auch meine Träume, meine Hoffnungen und ein ganzes Stück von mir selbst.

In cognito

Natürlich weinte und protestierte ich, aber dennoch ich fuhr mit einer blass braunen Bonnie Tyler Perücke auf dem Kopf vom Perückenmacher nach Hause. Noch schlimmer war der nächste Schultag… Als ich die Klasse betrat, tat ich allen Ernstes so, als wäre nichts – und zu meinem großen Erstaunen taten es mir alle meine Schulkollegen gleich. Kein einziges Kind, kein Lehrer sprach mich auf meinen seltsamen Look an. Niemand stellte mir irgendwelche Fragen. So blieb es die gesamte Schulzeit über. Und ich spielte konsequent das Spiel „ich bin wie die anderen“.

Verbrecher

Je mehr meine Haare ausfielen, desto schwieriger wurde es, die Perücke zu befestigen. Am Anfang klemmte ich sie mit kleinen Spangen, die in das Toupet genäht waren, an. Als meine Stirn anstatt eines Haaransatzes nur noch blanke Kopfhaut zierte, saß das haarige Teil völlig ungesichert auf meinem Schädel.

Beim Ausziehen eines Pullovers musste ich höllisch aufpassen, dass ich die künstliche Haarpracht nicht gleich in hohem Bogen mit abstreife. Vom Turnunterricht meldete ich mich ab, zu groß war die Panik, dass bei einem Purzelbaum mein schützendes Kunsthaar ohne mich durch den Turnsaal weiterpurzelte. Wind wurde mein größter Feind. Und als mir mein Vater mit 16 Geld für ein Moped schenkte, traute ich mich nicht, einen Helm aufzusetzen und fuhr bis zum Autoführerschein lieber weiter mit dem Bus. Ich hatte ein dunkles Geheimnis, das es um jeden Preis zu wahren galt!!! Mir war nicht klar, dass in meinem Umfeld so gut wie alle Bescheid wussten. Und die, die es nicht wussten, sahen es sofort, denn damals in den 1980er Jahren, da waren sahen Perücken nicht gerade natürlich aus. Schon gar nicht für junge Mädchen.

Ich fühlte mich wie eine Verbrecherin, hatte ständig Angst vor Entlarvung. Ich war quasi im Dauerstress, jemand könnte mich so sehen „wie ich wirklich bin“. Ja, wer war ich? Wer wollte ich sein? Würde ich mich je so „entstellt“ akzeptieren können? Muss ich mehr leisten als andere, um mein „Manko“ auszugleichen? Es sollte noch viele, viele Jahre dauern, bis ich das herausfinden würde.

Alien-Pechvogel

Die Cortisonbehandlung mit 14 war der Beginn einer langen Odyssee an Arztbesuchen. In der Medizin war der Grund meiner Krankheit unerforscht, eine zielführende Behandlungsmethode gab es somit nicht. Auch über 30 Jahre später hat sich daran leider nichts geändert. Die Ursachen von Autoimmunerkrankungen, zu denen Alopecia areata zählt, sind nach wie vor unbekannt. Manchmal wachsen die Haare ebenso spontan wieder nach wie sie ausgefallen sind. Ist man zu diesem Zeitpunkt gerade in Behandlung, dann kann sich der Arzt ob seines grandiosen Erfolgs rühmen. Die Crux an der Sache: Der Behandlungserfolg ist nicht replizierbar, denn beim nächsten Patienten tut sich mit genau derselben Behandlungsmethode höchst wahrscheinlich rein gar nichts. Wissen ist eindeutig Macht, aber leider war ich wie so viele andere Betroffene damals ohnmächtig. Meine Teenagerjahre durchlebte ich in der Prä-Google Zeit, und Mark Zuckerberg war noch nicht einmal geboren. Wir waren noch nicht so gut vernetzt wie heute, und so kannte ich absolut niemanden, der ähnliches wie ich durchmachte. Ich fühlte mich abwechselnd wie ein Alien oder ein riesengroßer Pechvogel, dem das Leben äußerst bitter mitspielte. „Warum gerade ich?“ war eine Frage, die ständig in meinem kahlen Kopf kreiste. Mein allseits bekanntes Geheimnis konnte ich um keinen Preis der Welt ausplaudern, und so vermisste ich vor allem eines: Einen Menschen, mit dem ich über meine Sorgen, meine Hemmungen und meine Ängste sprechen konnte.

Touched for the very first time

Bis heute bin ich in vielen Bereichen eher ein Spätzünder. Als mir mit Ende 13 die ersten Haare ausgefallen sind, war ich noch ein richtiges Kind. Die Themen Mode und Frisuren beschränkten sich bei mir auf meinen heiß geliebten rosa Mickey Maus Pullover und einen geflochtenen Zopf, den mir zu diesem Zeitpunkt noch meine Mutter machte. Die coolsten Mädchen an der Schule hatten eine Dauerwelle, was meine Mutter aber nicht erlaubte. Zu meinem 14. Geburtstag wünschte ich mir einzig und allein einen Friseurbesuch, bei dem meine bis zum Po reichenden brünetten Haare auf Schulterlänge gekürzt wurden, und mir eine Dauerwelle wie Madonna in „Like a virgin“ verpasst wurde. Ich ahnte nicht, dass dies nicht nur mein erster, sondern gleichzeitig auch der letzte Friseurbesuch meines Lebens sein sollte.

Die Jahre zogen durchs Land, ich hatte meine eigene erste Wohnung in Wien, studierte an der Uni und hatte ein paar Beziehungen. Am Anfang dauerte es regelrecht Monate, bis ich mich vor meinen Partnern oben ohne zeigen konnte. Instinktiv zog es mich zu Männern, die mir eher unterlegen waren. Ich war für alle drei die erste Freundin, und so ging ich davon aus, dass jeder dieser Männer dankbar war, wenigstens eine haarlose Freundin zu haben. Es war meine Art mich vor Verletzungen zu schützen. Verletzt hat mich keiner dieser Männer, das habe ich viele Jahre selbst getan, indem ich mich einschränkte und kleinmachte.

Noch mehr Aliens

Mit 29 passierte aber etwas, das meine Einsteillung und somit mein Leben von Grund auf verändert hat. Mein Perückenstudio lud mich und 40 andere Gäste zu einer Lesung ein. Die Autorin Jenny Latz stand kahl (!) am Rednerpult und las aus ihrem ersten Buch „Haarlos“ vor. Im Publikum waren Frauen in meinem Alter, mit unterschiedlichsten Perücken und auch Tüchern. Zu meiner Überraschung waren sie attraktiv und sympathisch. Beim anschließenden Small Talk knüpfte ich meine allerersten Alien-Kontakte. Eine Handvoll junger Frauen tauschte Telefonnummern aus. Die erste Form der Vernetzung nahm ihren Lauf. Wenig später kam es zu einem Arbeitstreffen, bei dem die ersten Schritte zur Gründung einer Selbsthilfegruppe unternommen wurden. Wir hatten keine Ahnung wie, aber wir waren euphorisch und hoch motiviert, anderen, aber allen voran uns selbst damit zu helfen.

Oben-ohne-Fotos

Im Zuge der Selbsthilfegruppe trauten sich acht Frauen zum ersten Mal „nackt“ vor die Kamera: ungeschminkt und mit barem Haupt. Die Stimmung im Fotostudio von Pilo Pichler war anfangs noch verhalten, aber allmählich löste sich die Anspannung und mit der Zeit kriegten wir uns kaum mehr ein vor Lachen. Obwohl uns Pilo von unserer wenig schönen Seite ablichten wollte, war dieses Shooting eine Art Befreiungsschlag für uns alle. Einerseits hatten wir Angst, wie unser Umfeld – aber vor allem wir selber – auf die Bilder reagieren würden. Und zugleich waren wir in einer aufgekratzten Aufbruchsstimmung, uns so zu zeigen wie wir waren. Das Foto-Shooting hat uns verändert. Es hat uns geholfen, ein Stück mehr zu uns selbst zu stehen. Es war ein langer Weg mit einer Menge an Selbstüberwindung dorthin. In meinem Fall dauerte er 14 Jahre.

The beauty and the beast

Mit 30 fühlte ich mich das erste Mal in meinem Leben makellos und attraktiv. Zu einem absoluten Freundschaftspreis durfte ich in einem Perückenstudio eine permanente Hollywood Perücke testen. Sie war einfach wunderbar: dünn, leicht und nicht spürbar. Das Haar war blond und lang! Ich war sofort verliebt in sie und in ihre Trägerin – in mich! Sie veränderte mich, ich fühlte mich einfach nur schön und unbeschwert! Diese ultraleichte Perücke wurde mit einem speziellen Kleber auf der ganzen Kopfhaut angebracht und blieb dort Tag und Nacht. Die Membran der Perücke war extrem dünn, die Haare von einer leichten, luftigen Qualität. Kein Kratzen, kein Schwitzen – nur noch vage konnte ich mich an das Gefühl von meinen eigenen Haaren erinnern. Ja, wenn schon Perücke, dann sollte sie sich SO anfühlen: nämlich wie eigenes Haar. Alle drei Wochen fuhr ich ins Perückenstudio und ließ sie mir vom Profi abnehmen. Mein Kopf und die Perücke wurden gründlich gereinigt. Danach wurde sie wieder frisch aufgeklebt. Währenddessen las ich Klatschzeitschriften wie eine „richtige“ Frau. Und mit duftendem, frisch geföhntem Haar zeigte ich mich wieder der Welt.

Was für andere völlig normal war, wurde für mich zum unfassbaren Luxus: zum ersten Mal seit über 15 Jahren unter der Dusche Haare waschen! Es fühlte sich sinnlich und befreiend an. Plötzlich konnte ich schwimmen gehen, ja sogar in den Pool springen und unter Wasser Purzelbäume machen. Cabrio fahren! Alles war möglich! Hochsteckfrisuren, Pferdeschwanz, all das ließen „meine“ langen blonden Haare mit sich anstellen. Ich war so glücklich! In der Zeit heiratete ich, und ich sage euch, kein Mensch wäre je auf die Idee gekommen, dass das nicht meine eigenen Haare waren. Aber alles hat ein Ende und leider wachsen bei einer Perücke, auch wenn sie noch so echt aussieht, keine Haare nach. Sehr wohl fallen aber durch die mechanische Belastung und das permanente Tragen eine Menge Haare aus. Nach sechs Monaten sah ich aus als hätte ich einen schweren Vitaminmangel und extrem schütteres Haar. Also musste eine neue Perücke her. Leider war diese Art von Perücken unfassbar teuer, und so kaufte ich mir wieder eine stink-normale Echthaar-Perücke. Normal heißt: sehr schwer, sehr kratzig, sehr heiß und mit einem dicken, fetten Pony, damit man den falschen Haaransatz nicht bemerkt.

Erst dann wurde mir überhaupt bewusst, was ich all die Jahre auf mich genommen hatte, nur um mich zu verstecken. Und wie ich all die Jahre unter der Hitze gelitten hatte. Durch die Bestärkung durch meinen damaligen Mann und die Selbsthilfegruppe fasste ich einen Entschluss. Zu etwas, das noch ein Jahr zuvor noch undenkbar gewesen wäre: ich wagte mich völlig kahl, ohne Schutz auf die Straße.

Durch diesen Entschluss hat sich mein Leben sehr zum Positiven gewendet. Heute stehe ich zu mir – und das ist ein wunderbares Gefühl!!!